Mit der Finanzierung von Palliativmedizin hapert es

Text: Simon Hehli, Neue Zürcher Zeitung NZZ | 16.02.2023

Ein letztes Mal unter dem Sternenhimmel einschlafen? Diesen Wunsch können sich Todkranke im Hospiz Zentralschweiz erfüllen. Der Gebäudekomplex besteht aus einem alten Teil, den ein Arzt in den frühen 1960er Jahren im Stil des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright zum Wohnen und für seine Praxis erbauen liess, und einem Neubau aus dem Jahr 2020. Dazwischen ist ein Innenhof entstanden, abgekapselt von der lauten Umgebung im Luzerner Ortsteil Littau. Die Türen sind breit genug, damit in der warmen Jahreszeit die Pflegebetten in den Hof gerollt werden können.

Dass hier Menschen leiden und sterben, merkt man dem Hospiz nicht an. Und genau darum geht es den Betreibern: eine Atmosphäre zu schaffen, die dem Tod etwas von seinem Schrecken nimmt. Die Patientinnen und Patienten sollen sich hier fühlen, als wären sie daheim. Viel Licht, warme Erdtöne. Die zwölf Bettenzimmer erinnern mit den Akari-Lampen und den Fensterbänken an ein Boutiquehotel mit Vintage-Flair, nicht an ein steriles Pflegeheim. Die Pflegenden und die Ärztin Sibylle Jean-Petit-Matile arbeiten nicht in Weiss, sondern in Strassenkleidung.

Im Verbindungsgang vom alten zum neuen Teil steht eine kleine Vitrine mit Kerzen. Immer wenn jemand stirbt, wird eine angezündet und brennt, solange die Leiche im Zimmer aufgebahrt ist. Im letzten Jahr brannten 150 Kerzen. Die Menschen, die ins Hospiz kommen, sind im Durchschnitt etwa 70 Jahre alt und bleiben für drei Wochen bis zum Tod. Die meisten haben eine Krebserkrankung im Endstadium, doch es gibt auch Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), multipler Sklerose (MS) oder Parkinson.

Daheim geht’s nicht mehr

Es sind Patienten, bei denen eine Behandlung im Spital aussichtslos ist oder die von sich aus darauf verzichten. Und deren Symptome – Schmerzen, Atemnot, Angstzustände, Übelkeit, schwere Müdigkeit – so gravierend sind, dass sie ihre letzten Tage und Wochen nicht daheim verbringen können. Manche haben auch niemanden, der sich dort um sie kümmern könnte. Der Eintritt in ein Pflegeheim, das vor allem auf Hochbetagte ausgerichtet ist, stellt für all diese Patientengruppen kaum eine Option dar.

Portrait Dr. med. Sibylle Jean-Petit-Matile, Vizepräsidentin Vorstand Dachverband Hospize Schweiz

Dr. med. Sibylle Jean-Petit-Matile
Geschäftsleiterin der Stiftung Hospiz Zentralschweiz, Ärztin im Hospiz und Vizepräsidentin des Dachverband Hospize Schweiz (DVHS)

Das Hospiz in Luzern Littau ist eines von neun, die es in der Schweiz bis jetzt gibt. Weitere sind in Planung oder im Bau. So auch das erste Kinderhospiz des Landes, das derzeit in der Nähe von Bern entsteht und acht todkranke Kinder aufnehmen können soll. Dass die Hospize eine wichtige Rolle im Gesundheitswesen spielen und eine Lücke füllen, ist unbestritten. Aber sie haben mit grossen Finanzierungssorgen zu kämpfen. «Wir fallen zwischen Stuhl und Bank», sagt Sibylle Jean-Petit-Matile. Die Ärztin ist auch Vizepräsidentin des nationalen Dachverbandes der Hospize.

Um das Problem zu illustrieren, zeichnet sie in ihrer Praxis ein Rechteck auf ein Blatt Papier und schraffiert es rot. «Das ist unser jährliches Defizit, rund 700 000 Franken.» Die Hospize gelten heute als Pflegeheime.

Doch der Maximalbetrag, den Krankenkassen und die öffentliche Hand für einen Tag im Pflegeheim bezahlen, ist zu tief.

Personal wie im Spital

«Wir brauchen viel mehr Personal, so viel wie eine Akutklinik», sagt Jean-Petit-Matile. Die Normalbesetzung an einem Morgen besteht aus fünf Pflegenden, zwei Freiwilligen und ihr als Ärztin. «Wir nehmen uns Zeit für die Menschen. Nur so entsteht eine vertraute Beziehung. Und nur so können wir ihnen beim Übergang vom Leben in den Tod beistehen.»

Rund 800 Franken kostet ein Patient im Hospiz Zentralschweiz pro Tag. Bei der durchschnittlichen Verweildauer von 20 Tagen kommen so 16 000 Franken zusammen, manche Patienten bleiben jedoch über Monate. Die Patienten selbst müssen am Tag 23 Franken für die Pflege, vor allem aber 250 Franken für die Hotellerie beisteuern. Kost und Logis sind auch in einem Pflegeheim sehr teuer, aber gerade bei jüngeren Patienten im Hospiz gibt es da einen essenziellen Unterschied: Sie haben meistens parallel noch eine Wohnung, in der der Rest der Familie wohnt und die bezahlt werden muss.

Jean-Petit-Matile erzählt von einer krebskranken 45-jährigen Bäuerin, die fünf Kinder hatte und im Hospiz Zentralschweiz in den Tod begleitet wurde. «Wie hätte sie die 7500 Franken für einen Monat Hotellerie bezahlen sollen? Das ist für die meisten Leute wahnsinnig viel Geld.» Deshalb unterstützt das Hospiz jene Patienten, die es sich nicht leisten können, den ganzen Betrag zu bezahlen. Auch dadurch entstehen die roten Zahlen für die Stiftung, die das Hospiz trägt. «Das Defizit müssen wir dann mit Spenden decken, das ist doch ein unwürdiger Zustand!», sagt die Ärztin.

635 Franken würden reichen

Ärgerlich ist die Unterfinanzierung aus ihrer Sicht auch deshalb, weil die Alternative zu einem Aufenthalt im Hospiz deutlich teurer wäre. Meistens wäre das eine Einlieferung ins Spital. Die Durchschnittskosten pro Patient und Tag betragen dort 2500 Franken, also dreimal so viel wie im Hospiz. Deshalb hätten eigentlich auch die Krankenkassen, die bei einem Spitalaufenthalt 45 Prozent der Kosten übernehmen müssen, ein Interesse an einer Stärkung der Hospize.
Bisher hätten sich die beiden Verbände der Krankenkassen aber kaum bewegt, sagt Sibylle Jean-Petit-Matile. Sie setzt deshalb ihre Hoffnungen auf die Politik. Wieder nimmt sie das Blatt Papier und notiert eine Zahl: 635 Franken. «Wir haben ausgerechnet, dass wir so viel von der öffentlichen Hand brauchen, um den Patienten vom Privatkostenanteil zu befreien und das mit Spenden zu deckende Betriebsdefizit auf ein erträgliches Niveau zu senken.»

Eine Pionierrolle bei der Finanzierung spielt das Wallis. Das Hospiz in Sitten ist seit einigen Monaten in Betrieb, in Ried-Brig wird derzeit eines für das Oberwallis gebaut. Im November stimmte die Walliser Bevölkerung deutlich einem neuen Gesetz zu, das vor allem wegen des Rechts auf Sterbehilfe im Altersheim starke Emotionen auslöste. Doch es ermöglicht auch eine bessere Unterstützung der Palliativmedizin und damit der Hospize. Gerade für kirchlich-konservative Kreise sind diese für todkranke Patienten, die unter starken Schmerzen leiden, die bessere Alternative zum assistierten Suizid. Die Walliser Regierung entschied, dass die Hospize vom Kanton eine Tagespauschale von 635 Franken pro Patient erhalten. Also genau so viel, wie Sibylle Jean-Petit-Matile und ihre Mitstreiter in anderen Kantonen fordern.

Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat vom Parlament den Auftrag erhalten, sich um klare Regeln für die Finanzierung der palliativen Versorgung zu kümmern – zumal die Problematik seit mehr als zehn Jahren bekannt ist. Mit Ergebnissen ist frühestens im nächsten Jahr zu rechnen. Sibylle Jean-Petit-Matile glaubt allerdings nicht, dass es eine bundesweite Lösung geben wird. Die Arbeit des BAG sieht sie sehr kritisch. «Man ignoriert vieles von dem, was wir immer wieder aufzeigen.» So habe in Bern niemand den Hinweis hören wollen, dass man die Finanzierung der spezialisierten Palliativmedizin in Hospizen anders regeln müsse als in Spitälern oder bei den Patienten daheim.

Unnütze Studien?

Zudem habe das BAG eine Arbeitsgruppe «Bedarf und Angebot» ins Leben gerufen, um eine Datengrundlage zu erarbeiten. Dies, obwohl die Hospize längstens entsprechende Studien vorgelegt hätten. Der Dachverband der Hospize geht davon aus, dass die derzeit gut 70 Betten nirgends hinreichen. Künftig brauche es landesweit rund 300 Betten, gerade auch wegen der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge. Da seien die Kantone gefordert, sagt Sibylle Jean-Petit-Matile.

Die Ärztin verabschiedet sich zum gemeinsamen Mittagessen mit Patienten, Angehörigen und den Pflegenden. Wie persönlich der Umgang ist, zeigt sich auch in dem Moment, in dem die Verstorbenen das Hospiz verlassen. Das Personal versammelt sich jeweils zu einem Ritual, um Abschied zu nehmen von dem Menschen, den sie bis zum letzten Atemzug begleitet haben. Dann löschen sie die Kerze aus.