Das Lighthouse in Zürich war zuerst ein Sterbehospiz für Aidskranke. Heute leiden die meisten Bewohner an Krebs.
Solche Häuser für den letzten Lebensabschnitt sind zunehmend gefragt.
Ein Bericht von Rebekka Häfeli in der NZZ, Freitag, 29. Juni 2018
Chris kannte alles. Rock, Pop, Reggae, Blues, das ganze Repertoire. Er war ein wandelndes Musiklexikon. Mit seinen langen Locken und dem verwaschenen Jeanshemd war er aus unserem Kollegenkreis nicht wegzudenken. Bis es eines Tages hiess, Chris sei krank. Er habe Aids. Das HI-Virus, das Schreckgespenst, das wir bisher nur vom Hörensagen kannten, hatte einen von uns erwischt. Wir waren halb so alt wie jetzt, es war Anfang der neunziger Jahre.
Als es Chris zunehmend schlechter ging, kam er ins Lighthouse, das Zürcher Sterbehospiz für Aidskranke. Klar, dass wir ihn dort besuchten. Das Herz klopfte, als wir vor seiner Zimmertür standen. Es roch nicht nach Spital, und doch war die Atmosphäre bedrückend. Chris, der in Wirklichkeit anders hiess, hatte nur wenig Persönliches mitgenommen, der Raum war spärlich eingerichtet. Er sass auf dem Bett, war abgemagert und schwach. Wir wussten alle, dass er nicht mehr lange leben würde.
«Im Spital war es vor 40 Jahren gang und gäbe, Sterbende aus dem Mehrbettzimmer ins Bad zu verlegen.»
Horst Ubrich, Geschäftsleiter der Stiftung Lighthouse
Das Lighthouse, das vor dreissig Jahren als Sterbehospiz für aidskranke Menschen gegründet wurde und in dem Chris seine letzten Tage verbrachte, ist heute eine spezialisierte Palliative-Care-Einrichtung für Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten. Heute kommt niemand mehr hierher, weil er sich mit dem HI-Virus angesteckt hat – dank den Medikamenten, die seither entwickelt wurden, haben sich die Überlebenschancen bei einer HIV-Infektion stark verbessert. Viele andere Krankheiten aber bleiben unheilbar, weshalb es Einrichtungen wie das Lighthouse genauso braucht wie damals. Mehr als 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind heute hier, weil sie an Krebs erkrankt sind und der Tod unausweichlich ist. Der Fokus der Palliative Care liegt bei der Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Im Vordergrund steht also nicht die Heilung, sondern die Linderung von Symptomen wie Schmerzen oder Atemnot.
Es kommt auch viel zurück
Regula Bucher begleitet Kranke im Hospiz auf ihrem letzten Weg. «Manchmal drückt es mir fast das Herz ab, wenn ich sehe, was die Leute alles durchmachen müssen», sagt die Teamleiterin Pflege im Lighthouse. Die schlanke Pflegefachfrau wirkt robust, doch manchmal hat auch sie Mühe, sich abzugrenzen. Warum wählte sie diese Arbeit? Weil eine gute Pflege in der letzten Lebensphase besonders wichtig sei, sagt sie. Doch die Arbeit braucht viel Kraft.
Nicht jeden Tag fällt es Regula Bucher gleich leicht, den Anblick von schnell wachsenden Tumoren an intimen Körperstellen zu ertragen oder mitzuerleben, wie ein Bewohner wegen einer Hirnerkrankung die Fähigkeit verliert, sich mit Worten zu verständigen. Und doch gebe ihr die Tätigkeit viel. Es sei schön, Dankbarkeit zu spüren. «Ich erinnere mich an eine schwerkranke Frau mit einer belastenden Vergangenheit, ein ehemaliges Verdingkind. Sie war vergewaltigt worden, wurde schwanger und gebar ein Kind, das man ihr wegnahm. Bevor sie starb, sagte sie mir, dies sei der schönste Ort, an dem sie je gewesen sei.»
Regula Bucher erzählt die Geschichte mit Tränen in den Augen. Sie ist froh, traurige Erlebnisse mit dem Team teilen zu können. Auch Rituale sollen dabei helfen, mit dem Unabänderlichen umzugehen. Nach dem Tod einer Bewohnerin oder eines Bewohners trifft sich das Team im jeweiligen Zimmer und nimmt mit Musik oder einem Gedicht gemeinsam Abschied. Verstorbene dürfen zwei bis drei Tage im Zimmer bleiben.
Regula Bucher klopft an eine der Türen der 18 Einzelzimmer, geht hinein und tritt an ein Bett.Tief eingegraben zwischen Kissen liegt Patientin B., der Fernseher läuft. Im Raum ist es warm, an den Wänden hängen viele farbige Bilder, die Frau B. gemalt hat. Die Bewohnerin schaut «Shopping Queen», eine deutsche TV-Serie,bei der Kandidatinnen auf Einkaufstour gehen und sich möglichst gut stylen müssen. Frau B. leidet an verschiedenen Krankheiten, die ihr ein selbständiges Leben verunmöglichen. Als Regula Bucher fragt, wie es ihr gehe, antwortet Frau B. schleppend. «Gestern bekam ich eine Spritze ins Bein. Jetzt geht’s ein wenig besser.» Man habe schon mehrmals eine Verlegung von Frau B., zum Beispiel in ein betreutes Wohnheim, in Betracht gezogen, erzählt die Pflegefachfrau. Diese Pläne hätten sich zerschlagen, da ihr körperlicher Zustand fragil sei. Die Frau um die fünfzig, deren Gesundheit ein einziges Auf und Ab sei, gehöre zu den Langzeitbewohnern im Lighthouse.
Hoffnung, verschont zu bleiben
Die meisten Patientinnen und Patienten blieben im Jahr 2016 zwischen 21 und 50 Tage im Lighthouse. Einige kehrten wieder nach Hause zurück. Für andere war es die Endstation. Sie hatten sich entschieden, hier zu sterben. Den nahenden Tod zu akzeptieren, sei für schwerkranke Menschen und deren Angehörige oft sehr schwierig, sagt Regula Bucher. «Viele halten sich an die Hoffnung, seltene Glücksfälle zu sein, bei denen eine Heilung doch noch möglich ist.» Die Pflegefachfrau beobachtet, dass die Konfrontation mit dem eigenen Tod ein Prozess ist. «Wenn man hier ist, kann man das Sterben nicht mehr verdrängen.»
Heute gibt es in der Schweiz neben dem Lighthouse zehn weitere Hospize mit einem ähnlichen Angebot. Daneben existieren Palliative-Care-Stationen in Spitälern oder – vor allem in Städten – spezialisierte Spitex-Dienste. Bei der Unterstützung für schwerstkranke Menschen am Lebensende hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan.Horst Ubrich, Geschäftsleiter der Stiftung Lighthouse und Co-Präsident des Dachverbandes Hospize Schweiz,erinnert sich an die Zustände vor vierzig Jahren. Damals absolvierte er seine Ausbildung in der Pflege: «Im Spital war es gang und gäbe, dass sterbende Menschen aus dem Mehrbettzimmer ins Bad verlegt wurden.» Der Tod sei stärker tabuisiert worden als heute.
Die Erinnerung an Chris flammt hin und wieder auf, wenn am Radio Musik gespielt wird, die er besonders mochte. Er schien keine Angst vor dem Tod zu haben, oder er wollte sie nicht mit uns teilen. Regula Bucher, die Pflegefachfrau im Lighthouse, empfindet es zuweilen als Herausforderung, das Vertrauen der Bewohner zu gewinnen. «Sie haben oft lange Krankengeschichten mit vielen Enttäuschungen erlebt. Da liegt es auf der Hand, dass sie sich fragen, wem sie noch trauen können.» Sie sagt, sie erlebe im Lighthouse immer wieder Situationen der Nähe und der Vertrautheit. Und mit einem Vorurteil räumt sie auch gleich auf: «In einem Hospiz wird nicht nur gestorben. Es wird auch ganz intensiv gelebt. » Sie erinnert sich an eine Bewohnerin, deren Mann viel Zeit bei ihr verbrachte. «Jeden Abend stiessen die beiden mit einem Glas Weisswein an. Das Ritual setzten sie fort, bis die Frau starb.»
Hospize schliessen eine Lücke
ekk. · Der Dachverband Hospize Schweiz setzt sich für einen Ausbau des Angebotes ein. Palliative Care soll flächendeckend
angeboten werden. Steht dieser Anspruch angesichts explodierender Gesundheitskosten nicht quer in der Landschaft?
«In einem Hospiz wird nicht nur gestorben. Es wird auch ganz intensiv gelebt.»
Regula Bucher, Teamleiterin Pflege im Lighthouse
Palliative Care helfe, langfristig Kosten zu sparen,sagt Sibylle Jean-Petit- Matile, die Vizepräsidentin des Dachverbands: «Das Geld muss richtig, zumWohl der Patienten, eingesetzt werden.» Für eine Spezialversorgung wie Palliative Care brauche es eigene, neu zu definierende Tarife, sagt die Ärztin. Die Finanzierung müsse gesichert werden.«Im Spital wird nach Fallpauschale abgerechnet. Die Aufenthaltsdauer ist begrenzt.» Für schwerkranke Menschen gebe es häufig keine geeignete Anschlusslösung. «Zu Hause können sie nicht gepflegt werden, und fürs Pflegeheim sind sie oft zu jung.» In verschiedenen Regionen gibt es konkrete Pläne für neue Hospize, etwa in der Zentralschweiz. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) unterstützt die Bestrebungen.
Der Bedarf sei ausgewiesen, sagt Lea von Wartburg, die das Dossier Palliative Care betreut.Hospize würden eine wichtige Lücke schliessen. «Schwierig ist aus meiner Sicht das heterogene Angebot. Neben Hospizen mit Spital- oder Pflegeheimstatus gibt es Heime, die nur einzelne Betten anbieten. Diese Vielfalt verkompliziert die Schaffung eines einheitlichen Finanzierungsmodells.» Die Diskussion sei jedoch im Gang, auf politischer Ebene sei vieles in Bewegung. Heute können Hospize wie das Lighthouse nur dank Spenden überleben.