An Weihnachten besinnen sich die Menschen – im Hospiz in Brugg ist dies dagegen das ganze Jahr über der Fall.

Es ist still, als wir aus dem Lift treten. Wir befinden uns im zweiten Stock des ehemaligen Bezirksspitals Brugg. Einst erblickten hier Babys das Licht der Welt. Heute schliessen hier Menschen für immer die Augen. Wir sind im Aargauer Hospiz. Vor uns liegt ein langer, fensterloser Gang mit hellem Parkett und grossen weissen Kugelleuchten.

Vor der Türe eines Patientenzimmers stehen eine brennende Kerze und eine Engelsfigur. «Der Patient ist gestern verstorben», erklärt uns Geschäftsleiter Dieter Hermann. Wer hier stirbt, kann noch drei Tage in seinem «letzten Lebensraum» bleiben, wie man im Hospiz sagt. «Verwandte und Freunde haben genug Zeit, um sich vom verstorbenen Menschen zu verabschieden.»

In den drei Tagen des Abschieds kommt es immer wieder zu besonderen Szenen. «Einem Jäger legten die Angehörigen seine nicht geladene Flinte ins Bett», erzählt Hermann. «Einem Liverpool-Fan zogen sie ein Trikot über und legten ihm einen Ball in die Hände. Alle, die Abschied nahmen, haben darauf unterschrieben.»

  • Artikel: Aargauer Zeitung, publiziert am 24. Dezember 2024
  • Autor: Philipp Zimmermann
  • Bild: Severin Bigler
Dieter Hermann, Vorstandsmitglied Dachverband Hospize Schweiz Web

«Es ist hier immer emotional und tiefgreifend»
Hospiz-Geschäftsleiter Dieter Hermann.

Sterbebegleitung als «Wellness für die Seele»

Etwa 120 Menschen sterben jedes Jahr im Hospiz. «Unsere Arbeit ist auch eine sehr intensive Angehörigenarbeit. Die Menschen sind oft sehr hilflos. Wir klären auf, spenden Trost, unterstützen den Trauerprozess.» Mit wir meint Hermann nicht nur die 30 Mitarbeitenden, die für einen 24-Stunden-Betrieb sorgen, sondern auch 65 Freiwillige für die Sterbebegleitung. Als solcher kam auch er einst ins Hospiz. Zehn Jahre ist das her. Hermann spricht von einer Lebensschule. «Das war Wellness für die Seele. Das hat mich geerdet.»

2016 quittierte er seinen Job als Chemie-Ingenieur, um die Geschäftsleitung im Hospiz zu übernehmen. «Das war eine tolle Zeit», blickt der vierfache Familienvater auf seinen vorherigen Job zurück. «Aber irgendwann wollte ich etwas Sinnstiftendes machen.» Dann sinniert er, wie sich sein Leben durch diesen Wechsel geändert hat: «Das Materielle steht für mich nicht mehr im Vordergrund. Ich bin achtsamer geworden, brauche viel weniger, um glücklich zu sein. Ich habe auch einen anderen Freundeskreis.»

Logo Hospiz Aargau, Brugg

Manche Patienten verlassen das Hospiz wieder

Das stationäre Hospiz, 2005 eröffnet, ist im Kanton die einzige Alternative zu den Palliativstationen der Spitäler. Es verfügt über zehn Zimmer und Betten, die meistens alle belegt sind. Manche Zimmertüren sind geöffnet, doch an allen hängt ein Vorhang, um den Blick hinein zu verhindern. Und im Gang steht ein geschmückter Weihnachtsbaum.

Sind die Tage im Hospiz in der Advents- und Weihnachtszeit besonders – womöglich besonders emotional? Dieter Hermann überlegt einen Moment. «Es ist hier immer emotional und tiefgreifend», sagt er. «Alle, die hierherkommen, haben den Tod vor Augen. Die meisten sind bettlägerig. Viele leben nur noch Stunden oder einige Tage.» Es gibt aber auch Menschen, die sich im Hospiz stabilisieren, wieder nach Hause oder ins Heim zurückkehren können. Neun waren es in diesem Jahr.

In dieser letzten Lebensphase drängt das Essenzielle des Lebens ins Bewusstsein. «Die Menschen haben hier einen Kokon um sich, mit Familie und Freunden. Wichtig ist noch der Abschied von der Tochter, der letzte Besuch eines Freundes. Alles andere rückt in den Hintergrund – auch Weihnachten.» Hermann überlegt einige Sekunden. Lässt seine Augen wandern. Dann sagt er: «Menschen besinnen sich an Weihnachten. Das erleben wir hier tagtäglich. Wir sind eigentlich immer besinnlich – in diesem Sinn haben wir hier jeden Tag Weihnachten.»

Viele Patientinnen und Patienten sind nicht mehr ansprechbar. Bei unserem Besuch können wir auch mit den anderen nicht sprechen. Ein Mann war die ganze Nacht wach, hat seine Lieblingsmusik – Heavy Metal – gehört. «Bitte nicht stören», steht auf seinem Türschild. Eine Frau hat die Pflegerin bei sich.
Dieter Hermann unterstreicht, wie wichtig die Sterbebegleitung sei. «Du gehst schlecht, ohne reinen Tisch zu machen. Dazu gehört auch das Negative. Wer aufräumt, ist vorfreudiger, geht einfacher», führt er aus. «Wir versuchen, immer auch die positiven Aspekte im Leben herauszuarbeiten. Damit die Leute sagen können: Das habe ich Gutes bewirkt.»

Ein kleines Geschenk bringt Glückseligkeit

Und so spielen Weihnachtsgeschenke im Hospiz nur ausnahmsweise eine Rolle. Anders ist das bei Geschenken im Sinn von kleinen Aufmerksamkeiten. Hermann erzählt von einer Patientin, die permanent schläfrig und dem Alkohol zugeneigt war, wie er sich ausdrückt. «Wir haben ihr einen Mikroeiswürfel mit Whiskeygeschmack unter die Zunge gelegt. Ihre Mundwinkel gingen nach oben, der Körper hat sich dann sichtlich entspannt. Diese Glückseligkeit …», sagt er – und lässt den Satz unvollendet.

Im Hospiz werden den sterbenden Menschen Wünsche erfüllt. «Eine Patientin hatte immer sehr viel Wert auf ihr Äusseres gelegt. Wir haben ihr wegen der akuten Schmerzen ganz vorsichtig zu dritt die Haare gewaschen, sie geföhnt und gestylt. Das hat sie sehr gerne gehabt.»

Die letzte Nacht unter dem Sternenhimmel

Der Zweck von Spitälern ist es, Leben zu erhalten und zu verlängern. «Das ist bei uns anders», sagt Dieter Hermann. Wird ein Patient künstlich ernährt, entfernt man ihm auf Wunsch die Sonde. Hilfe zu einem Suizid bietet das Hospiz dagegen nicht an. «Wir sind lebensbejahend», sagt Hermann. Wer etwa die Dienste einer Sterbeorganisation wie Exit wünscht, muss dafür das Hospiz verlassen.

Palliative Massnahmen sind dagegen möglich, etwa wenn jemand noch ein Enkelkind kennenlernen möchte. «Ansonsten lassen wir dem Leben seinen Lauf.» Die Menschen müssen sich an keine fixen Essens-, Besuchs- oder Schlafenszeiten halten. Raucher dürfen ihrem Laster auf der Terrasse frönen, von der man auf das Grün des Bruggerbergs blickt.

Im Sommer können sich auch mal drei Patientinnen im Bett auf die Terrasse schieben lassen. Sie schlafen auf Wunsch unter dem Sternenhimmel, immer jemanden als Nachtsitzwache bei sich. Verstarb schon einmal jemand mit dem Blick zu den Sternen? Dieter Hermann, mit einem Schmunzeln: «Das steht in den Sternen.»